Die ersten Tage von Tim Kruithoff
Oberbürgermeister Tim Kruithoff ist an diesem Samstag genau 100 Tage im Amt. Der 42-Jährige hat in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit ein enormes Tempo vorgelegt und auch schon für einige Veränderungen gesorgt.
Seit 100 Tagen der Emder Verwaltungschef: Tim Kruithoff. Foto: Eric Hasseler
Von Jens Voitel
Emden. Nachdem Tim Kruithoff und sein kleiner Tross aus Fachdienstleiter und Fahrer den kleinen Versammlungsraum der Larrelter Mühle nach gut einer Stunde wieder verlassen haben, bleiben mehr als 20 Männer und Frauen zurück, die noch nicht ganz glauben wollen, was sie da gerade erlebt haben. In vielen Gesichtern steht die Frage geschrieben: Was war das denn eben? So jedenfalls berichten es später Teilnehmer des zuvor innerhalb nur weniger Tage im kleinen Kreis verabredeten Treffens.
Es ist Anfang Dezember, draußen ist es längst dunkel und Kruithoff schon auf dem Weg zu einem anderen Termin im Neuen Theater. Gerade hat der Oberbürgermeister den Larreltern ruhig und sachlich sowie mit offensichtlich viel Detailkenntnis erläutert, wie er sich die Sanierung eines in den vergangenen Jahrzehnten völlig verwahrlosten Parks im Ortsteil vorstellen könnte. Vor allem aber, wie er, der Oberbürgermeister, das Engagement der Bürger unterstützen will.
Die hätten die Sanierung der riesigen Grünanlage nämlich schon längst selbst in die Hand genommen – wenn man sie denn nur gelassen hätte. Doch seit anderthalb Jahren kommt ihnen die Verwaltung wieder und wieder mit ihrem Regelwerk dazwischen.
Nun liegt plötzlich eine Lösung auf dem Tisch. Noch Fragen? Die Larrelter haben keine mehr.
Am heutigen Samstag ist Tim Kruithoff genau 100 Tage im Amt und hat in dieser kurzen Zeit als Oberbürgermeister nicht nur die Larrelter einigermaßen staunend zurückgelassen. Selbst die, die aus Überzeugung, Passion oder wegen schlechter Erfahrungen ein eher distanziertes Verhältnis zur Verwaltung oder gar zur Politik pflegen, können sich nicht ganz frei machen von einem gewissen Erstaunen: „Ja, das macht er schon ganz gut.” Das ist dann so ein Satz, der auf keinen Fall nach Begeisterung klingen, wohl aber eine gewisse Anerkennung durchblicken lassen soll. Und die ganz Vorsichtigen schieben gleich noch hinterher: „Na, mal abwarten.”
Abwarten will Kruithoff ganz augenscheinlich auf keinen Fall. In seinen ersten 100 Tagen an der Spitze der Stadtverwaltung hat er im Grunde fortgesetzt, was er bereits in seinem Wahlkampf an den Tag gelegt hat: eine bemerkenswerte Schlagzahl. So hat er in seinen ersten drei Monaten mal eben ein von seinem Vorgänger hinterlassenes und sehr umstrittenes Baugebiet halbiert, den Umbau des neuen Theaters verkündet und den Weihnachtsmarkt nicht nur eröffnet, sondern den Organisatoren auch gleich mehr Engagement der Stadt bei der Verschönerung der Veranstaltung versprochen.
Natürlich hat Kruithoff auch schon Minister begrüßt oder hat sie gleich selbst in Hannover und Berlin heimgesucht. Er hat freundlich lächelnd ein paar Millionen Fördergelder entgegengenommen und die Sanierung der Trogstrecke verkündet, hat sich zwischendurch den Unmut von Hundebesitzern zugezogen, sich tief in das Minenfeld Klinikum eingearbeitet, hat aber auch Gewerkschaftsveteranen mit einer noch etwas hölzernen Rede geehrt und Beschäftigte, deren Jobs in Gefahr sind, mit aller Überzeugung seine Unterstützung zugesagt.
Kruithoff hat geschichtsschwere Gedenkreden gehalten, ist nach Russland gejettet, um die Partnerschaft mit Archangelsk wieder zu beleben, hat daheim die Zahl der Besucher des städtischen Neujahrsempfangs fast im Vorbeigehen mehr als verdoppelt, hat ebenso nebenbei, aber mit nicht weniger Überzeugung vor musizierenden Grundschulkindern den Taktstock geschwungen, eine Kindergartengruppe in sein Amtszimmer eingeladen, mit Aktivisten von Friday for Future über eine Aufforstung diskutiert, verärgerte Bauern beruhigt und die städtischen Mitarbeiter vor Angriffen aus der Politik verteidigt. Und in die Arbeiterwohlfahrt ist er auch eingetreten. Ach ja, die symbolträchtige Amtskette hat er auch eingemottet.
Und Glück hatte er auch: In seine kurze Amtszeit fiel die Zusage für eine zweite Eisenbahnbrücke über den Binnenhafen und er durfte die Ansiedlung eines großen amerikanischen Logistik-Unternehmens verkünden. Nebenher hat er wie selbstverständlich noch eine Weihnachtsbotschaft per Video ins Internet gestellt, die der der Bundeskanzlerin in nichts nachsteht.
Mehr geht kaum in 100 Tagen, zumal das längst nicht alles war.
Man könnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, Tim Kruithoff hat sich selbst nur ein paar Monate Zeit gegeben, um alle seine Vorhaben umzusetzen, und nicht sieben Jahre. So lange geht seine Amtszeit. Und selbst danach könnte er noch fünf Jahre dranhängen. Jung genug ist er mit seinen 42 Jahren ja. Er müsste dann halt nur wiedergewählt werden.
Doch Kruithoff will den Schwung, den er zweifellos während seines Wahlkampfes und natürlich auch mit seinem unglaublichen Wahlergebnis von 75 Prozent genommen hat, in das Amt herüberretten. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die allgegenwärtige Präsenz des Stadtoberhauptes. Sein Vorzimmer legt ihm alle Termine vor. Alle! Und er selbst entscheidet dann, welche Termine er annimmt. Die ansonsten übliche Vorauswahl, Tagesgeschäft vieler Vorzimmer, findet derzeit nicht statt.
So entsteht ein Potpourri von Terminen, das aus Treffen mit Wirtschaftsvertretern, Fraktionsvorsitzenden, Führungskräften der Verwaltung bis hin zu Auftritten bei Bürgervereinen, in Kindergärten oder bei einem Konzert des Luftwaffen-Musikkorps besteht. Und das nicht selten alles an einem Tag. 14 Stunden reichen da nicht immer. Aber abends noch eine Rede schreiben, die ihm wichtig ist, das sei doch keine Arbeit, sagt er. „Ich weiß, was ich meinem Körper zumuten kann, und wann ich eine kleine Pause brauche”, sagt Kruithoff auf die Frage, wie lange er das aushalten kann.
Denn auch in vielen Ausschüssen des Rates ist er persönlich aufgetaucht. Und wenn er mal nicht da ist, gibt es in der Regel noch eine „Mitteilung des Oberbürgermeisters”, die seine Mitarbeiter dann vortragen.
Kruithoff hat eine Agenda für den Tag, für die nächsten Wochen und Monate. Doch dann kommt das Leben dazwischen. Ein Beispiel nur: Kruithoff hatte gerade die Amtsschlüssel von seinem Vorgänger Bernd Bornemann in die Hand bekommen, die Fotografen waren aus dem Zimmer, da wurde der Awo-Kindergarten in der Ringstraße wegen mangelhaftem Brandschutz geschlossen. Eigentlich nicht sein Job, aber eben „seine” Bürger. Kruithoff setzte sich ans Telefon, die zuständigen Mitarbeiter in Gang.
Veränderung. Mit diesem kleinen Wort ist Kruithoff Oberbürgermeister geworden. In einer Stadt, die nach Veränderungen gierte. Vielen Bürgern war es fast schon egal, wie die Veränderungen im Einzelnen aussehen, Hauptsache sie kommen. Irgendwie. Doch wer gegen das System wettert, dem Wähler nach dem Mund redet, ihm nur sagt, was er gerne hört, der gerät leicht in die Populismusfalle. Das kann auch passieren, wenn man nicht einhält, was man verspricht. Es ist ein schmaler Grat. Auch für Kruithoff. Allerdings: Bisher liefert er. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Und negative Nachrichten überbringt er mit gleicher Überzeugung.
Bürgerbeteiligung ist ihm wichtig. Das hat er ständig wiederholt. Er will das Ehrenamt nicht nur loben, sondern auch unterstützen. Die Sache mit dem Cassens-Park in Larrelt ist so ein „Idealfall”, wie er selber sagt. Wo schnelle Abhilfe möglich scheint, da soll seine Verwaltung Lösungen finden, nicht nur Probleme sehen. „Möglichmach-Verwaltung”, nennt Kruithoff das etwas schräg. In Larrelt, wo eigentlich nur lästige Vorschriften im Wege standen und eine überschaubare Summe Geld fehlte, lässt er seine Fachleute nach den Stellschrauben suchen und „kreativ” nach ein paar Euro im klammen Stadtsäckel kramen, schickt Gärtner los, die die Sicherheit unter den Bäumen herstellen, packt das Ganze in ein kurzfristiges Konzept und tritt damit höchstpersönlich vor die Bürger.
Nur wenige Tage später rücken die Larrelter an einem Samstagmorgen um Punkt 9 Uhr mit Hacke, Schaufel und Schubkarre in den Park aus. Was zuvor als Protestaktion geplant war, ist jetzt ein netter Arbeitseinsatz von Ehrenamtlichen geworden. Mit dabei in Arbeitskluft: Tim Kruithoff. „Und er hat richtig mit angepackt”, wird noch Tage später erzählt.
„Man muss dafür natürlich auch ein gewisses Risiko eingehen”, räumt Kruithoff ein. Wo das überschaubar bleibt, will er ansetzen. Ob das immer so klappt? Man wird sehen. Und er wird den Bürgern auch sagen, was nicht geht. Und warum nicht. Das hat er sich vorgenommen.
Erst die Symptome aus dem Weg räumen und so ein Zeichen setzen. Gleichzeitig an die Ursachen gehen. Das ist das sehr einfach klingende Prinzip, auf das man auch selber kommen könnte. Der Bürger sieht schnell, dass sich etwas tut, und im Hintergrund wird versucht, den Grund für das Problem aus dem Weg zu räumen. Bei ständig überquellenden Altkleider-Containern kann das schon mal funktionieren. Für andere kleinere und größere Probleme hat er zumindest schon mal das Erarbeiten von Konzepten angekündigt. Klingt ja auch nicht schlecht.
Die Strukturen der Verwaltung will er verändern. Nicht mit dem harten Besen, den sich viele, die das Wort Verkrustung schnell im Mund führen, von ihm erhofft haben, sondern mit dem Drehen von Stellschrauben. Er sieht sich als „Manager” der Stadtverwalter, will die Zuständigkeiten an einen Tisch holen, will den Experten Freiräume lassen, gibt ihnen gleichzeitig aber die Linie vor: Lösungen sollen her.
Die Gefahr, die eigenen Leute vorzuführen, sie schlimmstenfalls der Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen, weil plötzlich alles klappt, was vorher nicht ging, allein weil jetzt der neue Oberbürgermeister es will, besteht. In den Köpfen der Bürger könnte sich schnell festsetzen, dass ein Anruf beim OB genügt, und der setzt seine Mitarbeiter „auf den Pott”. So einfach ist das aber in der Regel nicht. Auch ein Tim Kruithoff kann sich das nicht leisten. Zumindest nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und auch Kruithoff ist bereits an die Grenzen einer öffentlichen Verwaltung gestoßen, und das hat weniger mit der Emder Verwaltung zu tun als mit den Regeln des öffentlichen Dienstes, die nun mal für alle gelten.
Im Dreiklang der Aufgaben eines Oberbürgermeisters – die Führung der Verwaltung, die Zusammenarbeit mit der Politik und die Repräsentation der Stadt – hat Kruithoff in seinen ersten Wochen eine spürbare Verschiebung vorgenommen. Und man darf davon ausgehen, dass das nicht ohne Plan geschehen ist.
Kaum jemand redet derzeit über „die Politik”, die zuletzt insgesamt keinen leichten Stand hatte – nicht nur die SPD. Die Themen setzt der Oberbürgermeister – ohne allerdings den Fraktionen im Rat damit offen auf die Füße zu treten. Deren Vorsitzende hat er kurzerhand mit einer zusätzlichen, regelmäßigen informellen Runde eingebunden.
Kruithoff hat sich zum Sprachrohr der Verwaltung gemacht, hat ganz nebenbei nicht nur die Mitarbeiter und Fachdienstleiter in einem Rundschreiben verdonnert, sich öffentlich nicht mehr zu ihren Fachthemen zu äußern, sondern hat auch die Führungsebene der Fachbereichsleiter angehalten, die Kommunikation nach außen doch bitteschön dem Chef zu überlassen. Auch das führt natürlich dazu, dass nur einer im Rampenlicht steht: Tim Kruithoff. Und wer das einen „Maulkorb” nennt, erntet schnell einen bösen Blick. Den kann er nämlich auch. „Wir haben die Kommunikation neu geordnet”, sagt er dann und sein Pressesprecher nickt eifrig.
Kruithoff profitiert lange nach der Wahl weiter vom Nimbus der Parteilosigkeit. Er schwebt somit etwas über der in heutiger Zeit nicht unbedingt wohlgelittenen Politik. Auch wenn die Parteien im Rat das nicht gern hören werden, so spielen sie derzeit eher aus der zweiten Reihe mit kleineren Bällen. Natürlich müssen sie den Vorlagen der Verwaltung zustimmen, natürlich entscheiden sie auch über den Haushalt und selbstverständlich reden sie mit. In der öffentlichen Wahrnehmung aber „regiert” derzeit der Oberbürgermeister.
Der Schwung, den viele in der Stadt mit Kruithoff verbinden, war seinem Vorgänger Bernd Bornemann verwehrt geblieben. Weder nach innen in die Verwaltung, noch nach außen in die Bevölkerung hinein, konnte Bornemann je eine Art Aufbruch auslösen. Zu sehr war Bornemann – trotz aller Versuche, genau das nicht zu sein – eng mit der längst auf dem absteigenden Ast sitzenden Emder SPD verbunden. Das Problem hat Kruithoff nicht. Parteilose Oberbürgermeister oder Landräte liegen allerorts im Trend.
Die Frage aber wird sein, ob sich die Parteien, die ihn auf dem Weg ins Amt unterstützt haben, das auf Dauer gefallen lassen, gefallen lassen dürfen. Interessant wird zudem sein, was die Amtszeit Kruithoffs generell mit der Emder Parteilandschaft machen wird. Die Gründung eines Ablegers einer Spaßpartei ist sicherlich noch kein Maßstab.
Es ist ja auch nicht so, dass Tim Kruithoff bei seinen öffentlichen oder halb-öffentlichen Auftritten nicht auch Lösungen, Veränderungen, zumindest aber eine neuerliche Prüfung verspricht, was eigentlich zur Kernkompetenz eines jeden Kommunalpolitikers gehört, der ja die Anliegen und Sorgen der Bürger auch immer gern „mitnehmen” will – wohin auch immer.
Kruithoff ist gerne unter Menschen und man nimmt ihm das ab. Er kommt damit fast schon Alwin Brinkmann nahe. Aber er ist weit davon entfernt, ein väterlicher Kümmerer zu sein, dafür ist er noch zu jung und noch nicht lange genug dabei. Er vermittelt aber Augenhöhe, obwohl das bei seiner stattlichen Größe nicht immer ganz einfach ist. Kruithoff ist ein Zuhörer, dem viele zutrauen, dass er das, was er sagt, auch umsetzt. Wenigstens so lange, wie er nicht wird, „wie die anderen”. Wozu braucht man noch Parteien?
Spricht man ihn darauf an, dass er vor allem als Verwaltungschef und weniger als Politiker wahrgenommen werden könnte, dann widerspricht er erst gar nicht, gibt sich ahnungslos und verweist auf die wichtige Rolle der Kommunalpolitik. Aber so ganz unrecht scheint ihm das gar nicht zu sein.
Die zwei Jahre, die der ehemalige Banker Kruithoff als Vorsitzender des Sportvereins Blau-Weiß Borssum agiert hat, nennt er selbst die „beste Manager-Schulung”. Er, der seine Liebe zu seiner Heimatstadt gern selbst ins Gespräch bringt, der sich beruflich aber bisher eher fast ausschließlich in einer Schlips-und-Kragen-Welt bewegte, hat bei Blau-Weiß die Bodenhaftung trainiert. Und selbst die acht Jahre als Spölbaas der Theatergruppe erscheint jetzt wie ein großer Plan. Erst freundlich am Rande sitzen, dann lächelnd etwas nach vorne drängen und ein paar Vorschläge machen, um am Ende den ganzen Laden zu übernehmen.
In Larrelt sagt man jetzt übrigens: Wenn Tim Kruithoff das, was er da in der Larrelter Mühle in Gang gebracht hat, so durchhält, dann kann sich in Emden wirklich etwas verändern. Was genau, kann man nur ahnen. Kruithoff wird sich jedenfalls auch in schwierigen Phasen noch behaupten müssen. Denn die kommen ohne Zweifel auch noch. Und wenn erst einmal der Reiz des Neuen einer gewissen Routine gewichen ist, wird sich zeigen, was wirklich anders ist. 100 Tage sind ja nur der Anfang. Das Projekt Kruithoff hat erst begonnen.
Emder Zeitung vom Samstag, 08. Januar 2020, Seiten 4/5